Hessen (post)kolonial

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Hans Grimm

Hans Emil Wilhelm Grimm (* 1875 in Wiesbaden, † 1959 in Lippoldsberg/Nordhessen) war ein deutscher Schriftsteller, der mit seinem Werk „Volk ohne Raum“ kolonialrevisionistische Thesen publizierte, die später im Rahmen des NS-Regimes reinterpretiert wurden.

1 Lebenslauf

Hans Grimm wurde als ältester Sohn einer Beamtenfamilie geboren. In seiner eigenen Autobiografie attestierte er sich eine sehr unglückliche Kindheit, die vor allem vor der Furcht vor dem prominenten Vater geprägt war.[1] Durch einen Seh- und Hüftfehler vom Militärdienst befreit, strebte Hans Grimm nach bestandenem Abitur zuerst nach einem Studium, dass vom Vater jedoch auf ein Semester in Lausanne beschränkt wurde, wonach er eine kaufmännische Ausbildung erhalten sollte.[2] Als Volontär in London wechselte Grimm 1897 nach Port Elizabeth an der britischen Kapkolonie. Dort entwickelte er ein Interesse für das „ursprüngliche Afrika“ und nahm sowohl Kontakt zu Buren als auch zu Einheimischen auf. Während des Burenkrieges zog sich Grimm 1901 für ein dreiviertel Jahr nach Hessen zu seiner Familie zurück und kehrte 1902 wieder zurück.[3] Gemeinsam mit Freunden gründete er eine kleine Importfirma und zog sich selbst auf eine kleine Farm am Nakoon zurück. Als die Firma bei einem Großbrand jedoch zerstört wurde, musste Grimm Afrika verlassen.[4]

Als er 1910 endgültig nach Deutschland zurückkehrte, begann er, bis 1913 Staatswissenschaften in München zu studieren und auch erste literarische Werke zu veröffentlichen. 1914 verließ Grimm, gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, München, um am Kolonialinstitut in Hamburg seine Dissertation zu „Militärsiedlern im Kaffernland“ abzufassen.[5] Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er jedoch 1916 als Kanonier eingezogen und an die Westfront geschickt. Seine Sprachkenntnisse brachten ihm eine Position als Dolmetscher und Frontberichterstatter ein, später wurde er nach Berlin berufen, um Propagandamaterial zu verfassen. Die Niederlage Deutschlands und den Sturz des Kaiserreichs durch die Revolution von 1918/19 erlebte er mit Ablehnung und zog sich nach Lippoldsberg zurück.[6]

1926 veröffentlichte Hans Grimm, nach fünfjähriger Vorbereitungszeit, den Bestsellerroman „Volk ohne Raum“, dessen Titel später von den Nationalsozialisten als legitimierendes Schlagwort für deutsche „Lebensraumpolitik“ im Osten Europas angeeignet wurde. Trotz mehrerer Anläufe fand Grimm keinen Weg, ein weiteres großes „politisches“ Werk zu schreiben, wofür er unter anderem die abgeschiedene Lage in Lippoldsberg verantwortlich machte und forderte, dass Schriftsteller aktiv in der Gesellschaft teilhaben sollten und Einblicke in Betriebe und Fabriken bekommen, um Lösungen für aktuelle Probleme zu produzieren.[7] Stattdessen widmete er sich zahlreichen Lesereisen und Preisverleihungen, so bekam er 1927 die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen, 1929 den Preis der Nationen der Deutschen-Dichter-Gedächtnis-Stiftung und 1932 die Goethe-Medaille.[8]

Auf dem Reichskolonialtreffen 1928 traf Grimm zum ersten Mal mit Hitler zusammen, den er aufgrund des Vertretens einer „Führungsschicht“ gegenüber der Gefahr der „Vermassung“ hoch schätzte.[9] Nach dem Scheitern des Volksbegehrens zur Verabschiedung des „Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes“ gegen den Young-Plan wurde die NSDAP für ihn die einzig wählbare Partei, auch, wenn er ihr nicht beitrat.[10] Er kritiserte dennoch ihre sozialistische Positionen gegenüber den Arbeitern und dem „Pöbel“ und fürchtete, die Straßenschlachten würden zu einer zunehmenden „Bolschewisierung“ führen.[11] Nach der Machtergreifung 1933 wurde Grimm zunächst von NS-Größen hofiert und er selbst hatte wenig Berührungsängste, sich mit den neuen Machthabern zu umgeben. Dennoch kritisierte er das NS-Regime in seiner Kulturpolitik, insbesondere die Arbeitsweise des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller, als „inkompetent und ineffizient“.[12] Auch das Vorgehen im Röhm-Putsch kritisierte er scharf, ebenso wie das Zusammenlegen der Posten des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten. Seine Kritik formulierte er als Beschwerdebriefe, die er nach Berlin schickte.[13] Seine Wertschätzung der nationalsozialistischen Ideale ließen ihn die tatsächliche Umsetzung als mangelhaft erscheinen und er setzte sich für Verschärfungen und weniger Sozialmaßnahmen für junge Autoren ein, um einen „Führerkader“ durch Entbehrungen heranzuziehen. Seine privilegierte Stellung nutzte Grimm jedoch auch, um sich in zwei aktenkundigen Fällen für verfolgte Autoren einzusetzen, so für Erich Kästner, der dank Grimm weiterhin unter einem Pseudonym veröffentlichen durfte, und für Paul Landau, dem der Beitritt in den Reichsverband aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt wurde. [14]Ab dem Röhm-Putsch kam es zu einer weiteren Distanzierung von der Herrschaftspraxis des NS-Staates, auch, wenn Grimm da System als solches nie ablehnte.[15]

Noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte er dem Auswärtigen Amt vorgeschlagen, den französischen und englischen Bevölkerungen erklärende Nachrichten zukommen zu lassen und war, als der Kriegsfall dann letzten Endes 1939 eintrat, der Ansicht, England sei ungewollt in den Krieg hinein geschlittert. Während des weiteren Konflikts wurde er 1941 als „Künstler im Künstlerkriegseinsatz“ eingeteilt, was ihn von Kriegs- und Arbeitsdienst freistellte. Direkt betroffen wurde er, als sein Sohn in englische Kriegsgefangenschaft geriet und 1945 amerikanische Soldaten bei Göttingen einen Zug angriffen, in dem sich Grimm versteckt hielt. Ferner fielen am 8. April 1945 drei Granaten auf sein Klosterhaus, wodurch ihm die Trommelfelle platzten.[16]

Die Schuld an der Kriegsniederlage lag in Grimms Augen bei den Attentätern vom 20. Juli 1944 und in den zahlreichen Flüchtenden aus den ehemaligen Ostgebieten sah er die schlimmsten Befürchtungen aus „Volk ohne Raum“ bald auch in Deutschland Realität werden. Da er aber weder einer NS-Organisation angehört oder bedeutende Literaturpreise erhalten hatte, wurde er als erfolgreich entnazifiziert eingeschätzt.[17] Der Autor verfocht auch im besetzten Deutschland weiterhin Ideen nationalistisch-rassistischer Ansicht, trotz eines Redeverbots und wachsenden Widerstandes von verschiedenen künstlerischen Gruppen. 1959 verstarb Hans Grimm an Gehirnblutungen.[18]

2 Koloniale Ideologie

Schon durch die Aktivitäten seines Vaters, Theodor Grimm, der 1882 den „Deutschen Kolonialverein“ mit gründete, war Hans Grimm schon früh mit dem kolonialen Gedanken in Kontakt gekommen. Während seiner Zeit im Ausland entwickelte Grimm ein Geschichtsbild, nachdem die Germanen dereinst als eine Gesellschaft freier Männer existiert hätten, die ihren König wählten und sich so ihre Freiheit bewahrten. Die modernen Staatsformen - die „demokratische Flutwelle“, aber auch überkommene Adelsstrukturen - würden diese Form von „natürlicher Freiheit“ untergraben, weswegen in der unberührten Natur der Kolonien die einzige Möglichkeit bestehen würde, wieder zum ursprünglichen Naturzustand der Germanen zurückzufinden.[19] Hieraus entwickelte er sein Raumkonzept vom „Boden“, der als Träger des „Volkes“ agierte und gerade in Afrika in für Europa unvorstellbarer Weite und Größe „ungenutzt“ vorhanden war.[20] Lebenslanges Vorbild war für ihn England, mit dem es galt, „völkische Ebenbürtigkeit“ zu erlangen.[21] Seine Idealvorstellung einer Neuordnung Afrikas war ein übernationales Gebilde, in dem alle Weißen, ungeachtet ihrer Herkunft, die gleichen Rechte und Pflichten genießen.[22] Den genozidalen Krieg gegen die Herero und Nama stellt er als eine „wohlverdiente Strafe“ für deren Auflehnung gegen die deutsche Herrschaft dar.[23]

Grimms Darstellungen der Kolonien sind von einem starken Rassismus geprägt. So waren nach seiner Auffassung die weißen Siedler die ersten Bewohner in Südafrika, die das Land urbar gemacht hatten. Erst danach wären die „Schwarzen“ gekommen, um von der Arbeit der „Weißen“ zu profitieren. Die Siedler hätten die „Schwarzen“ dann als Arbeitskräfte akzeptiert, was nach Grimm ein fataler Fehler war, der dazu geführt hätte, dass Südafrika kein rein von weißen Siedlern bewohntes Land geblieben war.[24] Die Herrschaft der „Weißen“ würde zudem die „Farbigen“ aus der Knechtschaft ihrer „Häuptlinge“ befreien und so zum ersten Mal „Leben und Besitz“ dieser Menschen schützen.[25] Der „Farbige“ sei „zwar dumm“, aber „wenigstens ehrlich“ - dem gegenüber steht für Grimm der „Jude“, der gerissen und ohne Moral ist.[26]

Aus der Kolonialbewegung trat er 1914 aus Protest gegen die kriegsbefürwortende Publizistik aus.[27] Im Ersten Weltkrieg sah er hauptsächlich einen „Verteidigungskampf“ gegen die slawischen Völker, der Krieg mit England hingegen war eine Tragödie, da diese „two white nations“ einander nicht bekämpfen, sondern gemeinsam die Führungsrolle in Europa und den Kolonien erlangen sollte.[28] Die Weigerung der NS-Politik, die Rückgewinnung der Kolonien voranzutreiben, verurteilte Grimm als eine „erzwungene Dichotomie“, da die Ostbesiedelung einen anderen Typus Kolonialist erfordere als der Siedlungskolonialismus in Afrika.[29]

Nach Ende des 2. Weltkrieges verschob sich Grimms Fokus. Von nun an sah er in der Wiedergewinnung der abgetretenen deutschen Ostgebiete die Möglichkeit, dem „Volk“ „Raum“ zu schaffen, da die "Polen und Russen" schlechte Agrarwissenschaft betrieben und so eine weltweite Ernährungskrise provozieren würden.[30] Das Thema Afrika verschwand zunehmend und Kolonialromantik wurde durch Apologetismus und Revisionismus für die Zeit des NS-Regimes ersetzt.[31]

3 Literatur

  • Annette Gümbel: »Volk ohne Raum« Der Schriftsteller Hans Grimm zwischen national-konservativem Denken und völkischer Ideologie, Marburg 2003
  • Vadim Oswalt: Nur ein Schlachtruf des „Ritts gen Osten“? „Volk ohne Raum“ von Hans Grimm (1926), in: Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen 2011, S. 201

[1] Gümbel, S. 28
[2] Gümbel, S.29
[3] Gümbel, S. 30
[4] Gümbel, S.31
[5] Gümbel, S.33
[6] Gümbel, S. 35
[7] Gümbel, S. 67
[8] Gümbel, S. 68
[9] Gümbel, S. 72
[10] Gümbel, S.74
[11] Gümbel, S. 80
[12] Gümbel, S. 180
[13] Oswalt, S. 201
[14] Gümbel, S. 183
[15] Gümbel, S. 188
[16] Gümbel, S. 178
[17] Gümbel, S. 250
[18] Gümbel, S. 258
[19] Gümbel, S. 39
[20] Gümbel, S.41
[21] Gümbel, S. 40
[22] Gümbel, S. 118
[23] Gümbel, S. 94
[24] Gümbel, S. 47
[25] Gümbel, S. 53
[26] Gümbel, S. 50
[27] Gümbel, S.33
[28] Gümbel, S. 34
[29] Gümbel, S. 167
[30] Gümbel, S. 257
[31] Gümbel, S. 264

Zuletzt geändert: 26. Mai 2024, 23:08, Horstmeier, Philipp [horstmep]