Hessen (post)kolonial

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Völkerschauen in Frankfurt

Für den hessischen Raum sind besonders die Völkerschauen in Frankfurt gut dokumentiert und fast lückenlos erschließbar. Insgesamt 61 Plakate, die für Völkerschauen warben, lagern im Archiv des Deutschen Historischen Museums. Wie in anderen deutschen und europäischen Großstädten fanden die Schauen überwiegend im Zoologischen Garten statt. Einzelne Veranstaltungen gab es zudem im Cafe an der Neuen Börse, im Hof der Landwirtschaftlichen Halle, auf dem Gelände der Elektrotechnischen Ausstellung, im Panoptikum an der Kaiserstraße und auf dem Ausstellungsplatz an der Forsthausstraße. Ausrichter der Völkerschauen waren in der Regel Unternehmer, darunter als prominentester der erwähnte Carl Hagenbeck, der bis 1931 rund ein Dutzend seiner Völkerschauen in Frankfurt zeigte. Drei bis vier Wochen gastierten die Unternehmer mit ihren „Truppen“ in der Stadt.

Für die vorgeführten Menschen waren die Schauen nicht nur demütigend, sondern auch enorm anstrengend. Bis zu zehn Stunden am Tag waren sie gezwungen, ihren vermeintlichen Alltag vorzuspielen - und zwar wochenlang. Im Verlaufe der Vorstellungen boten sie rituelle Tänze, Gesänge, Kulthandlungen, Scheingefechte, sie demonstrierten handwerkliche Techniken und „Spezialitäten“ einzelner Stämme wie Bumerangschleudern, Schlangenbeschwörungen oder Kajakfahrten. Viele der Zurschaugestellten litten wegen des ungewohnten Klimas an Erkältungskrankheiten und Heimweh, sie wurden krank infolge der Ernährungsumstellungen oder waren schlicht den körperlichen und psychischen Strapazen nicht gewachsen. Immer wieder starben Zurschaugestellte während ihrer (erzwungenen) Tour durch Europa. Im Winter 1880/81 erlag beispielweise eine Eskimofamilie kurz nach ihren Auftritten in Frankfurt und Darmstadt einer Infektionskrankheit.

Vorderhand kamen die Völkerschau-Truppen freiwiliig nach Europa. Sie wurden in der Regel von Entdeckungsreisenden in ihren Heimatländern angeworben - mit Versprechungen und falschen Behauptungen. Manche unterzeichneten gar „Arbeitsverträge“, die sie allerdings in der Regel nicht selbst lesen konnten. Allgemein wurden die Angehörigen außereuropäischer Kulturen von den Veranstaltern und Unternehmern als „exotisches Material“ angesehen, manchmal gar als Mischung zwischen Tier und (freilich abnormen) Menschen. Deshalb waren Zoologische Gärten und Panoptiken die angemessenen Orte der Schaustellung.

Die Völkerschauen dienten dabei nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie der Modifizierung vorhandener Bilder des Fremden - im Gegenteil: Sie waren Teil einer „imaginären Ethnografie“, also gewissermaßen Reiseersatz und symbolhafte Verarbeitung und Bestätigung vorgeprägter kolonialer und rassistischer Denkmuster. Besonders wichtig waren hierfür die Authentizität der exotischen Menschen (es kam durchaus auch vor, dass Weiße verkleidet und geschminkt bei Völkerschauen als Exoten auftraten) und eine möglichst reizvolle Präsentation. Die Welt außerhalb Europas wurde dabei freilich auf Stereotypen reduziert: auf den „bösen Wilden“, kannibalisch, kriegerisch und grausam bis zum Exzess, und den „guten Wilden“, meist beklagenswert naiv in seiner stumpfen und sanften Hilflosigkeit.

Der Anblick der „nackten Wilden“ löste zudem erotische Wunschträume bei manchen (in der Regel männlichen) europäischen Zuschauern aus. Besonders exponiert wurde der „wilde“ Körper bei rituellen Brauttänzen und Scheingefechten zwischen Männern und Frauen Die öffentlich ausgestellte Nacktheit der Exoten war stets ein wichtiges Moment der Attraktivität der Völkerschauen, das wiederum nicht zuletzt den Abstand zwischen vermeintlichen Natur- und vermeintlichen Kulturvölkern symbolisch manifestierte.

1 Liste der Völkerschauen in Frankfurt 1880-1905

Die folgende Zusammenstellung beruht zu großen Teilen auf den Angaben in Schmidt-Linsenhof u. a., „Völkerschauen“:

  • 1877/78 "Nubier" aus dem Sudan (Ort unbekannt, Hagenbeck)
  • 1. bis 12. Dezember 1880: Zwei "Eskimofamilien" aus Labrador im Zoologischen Garten (Hagenbeck)

Diese Ausstellung fand im Winter 1880/81 auch in Darmstadt statt. Die ausgestellten Eskimos starben kurz nach ihrem Aufenthalt in Hessen im Januar 1881 an einer Infektionskrankheit. Carl Hagenbeck hatte seit 1877 mehrfach Völkerschauen mit Eskimos in Deutschland organisiert. 1880 bei der Völkerschau in Frankfurt wurden sie mit Wohnhütten, Hunden, Booten und Gerätschaften zusammen ausgestellt.

  • 1882: Sechs Indianer vom Stamm der Chippewas im Cafe im Cafe der Neuen Börse (amerikanischer Unternehmer, Name unbekannt)
  • 7. bis 18. Juni und 15. bis 30. August 1885: Ceylon-Karawane (Singhalesen) im Zoologischen Garten (Hagenbeck)

Bei dieser Schau traten insgesamt 43 Singhalesen auf, daneben 25 Elefanten und jede Menge Rinder. Bei der zweiten Schau (1885) waren laut einem Bericht der „Kleinen Presse“ nur noch drei Menschen anwesend, die schon 1884 zu der Schau gehört hatten. Die restlichen waren demnach teils in ihre Heimat zurückgekehrt, teils gestorben.

  • 5. bis 20. Juli 1884: Kalmücken-Karawane im Zoologischen Garten (Hagenbeck)

Diese Schau wurde auch in vielen europäischen Hauptstädten (darunter Paris und Berlin) mit großem Erfolg gezeigt. In Berlin besuchten die Schau am ersten Tag insgesamt 93.000 Menschen. Neben Zelten und Geräten hatten die Kalmücken auch jede Menge Tiere mitgebracht, darunter Pferde und Kamele.

  • Mai 1885: Australneger im Zoologischen Garten (im Auftrag des Zirkusunternehmers Barnum)

Die hier gezeigten Menschen, die aus dem britisch kolonialisierten Australien stammten, standen aus europäischer Sicht auf der untersten Stufe der „Naturvölker“. Von ursprünglich acht Australieren, die zu der Schau gehörten, lebten beim Eintreffen in Frankfurt noch fünf. Einer wurde in Frankfurt krank und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Höhepunkt der Schau war nach verschiedenen Zeitungsberichten das Bumerangschleudern, das - als einziger Teil des Programms - nicht im kleinen Saal des Zoologischen Gartens, sondern unter freiem Himmel gezeigt wurde.

  • 5. bis 23. September 1888: Beduinen-Karawane aus Lybien im Zoologischen Garten (im Auftrag des Unternehmers und späteren Leipziger Zoodirektors Ernst Pinkert)

Diese Schau bestand aus zahlreichen Tieren, Zelten, Gerätschaften und insgesamt 18 „Eingeborenen“ aus der lybischen Wüste - „unter der Führung des Scheich Tarif Salah“, wie das Programmheft ankündigte. Das Programm verlief demnach wie folgt: Wandernde Beduinen, Fantasia (Reiterszenen), Nabut-Fechtübungen, Brautzug, Kameldiebe, Überfall einer Handelskarawane durch berittene Beduinen.

  • ab 9. Juni 1889: Somali-Gruppe im Zoologischen Garten (im Auftrag des Unternehmers Josef Menges)

Am Sonntag, 2. Juni, kamen allein 15.000 Besucher zu dieser Völkerschau. Frankfurt war die erste Stadt, in der der Unternehmer Josef Menges, die Somali-Gruppe zur Schau stellte.

  • 1890/91 Beduinen-Schau in Frankfurt (im Auftrag des Unternehmers Ernst Pinkert)
  • 1. bis 17. August 1891 „Amazonen“ aus Dahome (Westafrika) im Zoologischen Garten (Hagenbeck)

Diese Schau hatte zuvor unter anderem in Berlin und Hamburg Station gemacht. Die Schaustellungen gipfelten in dem Programmpunkt „Opfertänze mit Schlachttänzen“. Zuvor mussten die „Amazonen“ unter anderem Scheingefechte mit Feuersteingewehren vorführen. Insgesamt waren an der Schau wohl 24 Frauen und 14 Männer beteiligt. Sie mussten täglich acht Schauen aufführen.

  • 25. Juli bis 13. August 1894: "Dinka-Neger" aus dem Sudan im Zoologischen Garten (im Auftrag des Unternehmers Willy Möller)

Diese Schau hatte insgesamt 58.000 Besucher. In acht Vorstellungen täglich führten die Dinkas Spiele, Gesänge, Tänze und Kämpfe vor.

  • 27. Juni bis 20. Juli 1896: Samoanerinnen im Zoologischen Garten (Auftraggeber unbekannt, auf Einladung des Direktors des Zoologischen Gartens, Prof. Adalbert Seitz)

Wie bei der anderen Samoaschau 1901 waren vor allem „Liebestänze“ zu sehen. Während die „Amazonen“ als Inbegriff einer kriegerischen Gruppe galten, standen die Samoanerinnen für die Idealbilder einer zärtlich-sanften und willfährigen Weiblichkeit. Zu der Schau gehörten 22 Frauen und Mädchen und 4 Männer.

  • 8. bis 26. September 1897: Kalmückenschau im Zoologischen Garten (im Auftrag des Unternehmers E. Gehring)

Die hier ausgestellten Menschen stammten aus dem Südosten des europäischen Russlands. Das Programm unterschied sich wenig von dem der Hagenbeck-Schau aus dem Jahr 1884. Dabei gab es religiöse Zeremonien, Reiten, Lasso-Werfen, Tänze und eine „Steppenwanderung“ zu sehen.

  • Februar 1899: „Amazonen“ aus Dahomey im Moskauer Panoptikum, Kaiserstraße 71 (Hagenbeck)

Diese Schau ähnelte der vom August 1891, war aber vollständig neu besetzt. Die Ankündigung dieser Schau sprach von „33 Wilden Weibern“ und lässt erkennen, dass es weniger um ethnologisch-koloniale Aspekte als vielmehr um den Geschlechterkampf ging - Frauen überwinden Männer im Kampf. Die Schau kombinierte so zwei „Gefahren“, denen sich Kolonisatoren um 1900 ausgesetzt sahen: den Aufstand der Kolonialvölker und den Aufstand des weiblichen Geschlechts.

  • 26. Mai bis 12. Juni 1899: Bischarin-Nomaden aus Ägypten im Zoologischen Garten (im Auftrag des Unternehmers Willy Möller)

Präsentiert wurde ein „Bischarin-Lager“ mit rund 70 Personen. Tiere wurden nicht gezeigt.

  • 1. November bis 7. Dezember 1899: Aschanti aus Westafrika (Goldküste) in der Ausstellungshalle Forsthausstraße (Auftraggeber unbekannt)

Insgesamt 75 Menschen gehörten zu dieser Schau. Am 3.12. gab es eine Sonderveranstaltung zur Geburt von drei afrikanischen Kindern - ein sogenanntes „afrikanisches Volksfest“. Dies zeigte auf besondere Weise die rücksichtslose Vermarktung der privaten Sphäre der ausgestellten Menschen.

  • Anfang September 1900: Malabaren aus Indien auf dem Ausstellungsplatz Forsthausstraße (Hagenbeck)

Zu dieser Schau gehörten 50 Menschen. Sie wurden zur Schau gestellt in der Rekonstruktion eines indischen Dorfes mit Hütten, einem Bazar, Teehaus und Tempel. In dem Teehaus wurde zugleich Werbung für Tee gemacht: Besucher konnten auf Wunsch eines Tasse des Hagenbeckschen „Ceylon-Thee“ probieren.

  • 20. Juni bis 8. Juli 1901: Samoanerinnen im Zoologischen Garten (Auftraggeber unbekannt)

Zu dieser Schau gehörten acht Männer, 17 Frauen und ein Kind. Insgesamt sahen sie zwischen 10.000 und 20.000 Besucher - täglich.

  • Herbst 1903: Beduinen-Schau (ähnlich 1888) auf dem Ausstellungsplatz Forsthausstraße (Auftraggeber unbekannt)
  • 24. Mai bis 6. Juni 1905: Indien-Völkerschau in Zoologischem Garten (Auftrag: Gustav und John Hagenbeck, die Brüder Carl Hagenbecks)

Diese Schau hatte insgesamt 60.000 Besucher. Zur Schau gestellt wurden 71 Männer, Frauen und Kinder mit Arbeits-Elefanten, Rindern und Bären.

  • Die nationalsozialistische „Deutsche Afrika-Schau“ gastierte vom 6. April bis 26. April 1938 (Frühjahrsmesse) und vom 30. April bis 4. Mai 1938 (KdF-Fest) in Frankfurt. Eine mehrtägige Schau in Kassel, die am 27. März 1938 beginnen sollte, wurde abgesagt.

2 Literatur

  • Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, zugl. Univ. Diss. München 2003, Frankfurt a. M. 2005.
  • Viktoria Schmidt-Linsenhof/Kurt Wettengl/Almut Junker: Kapitel „Völkerschauen“, in: dies. (Hg.): Plakate 1880-1914. Inventarkatalog der Sammlung des Historischen Museums Frankfurt, Frankfurt/Main 1986, S. 224-264.
  • Thomas Theye (Hg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985.

Zuletzt geändert: 28. Aug 2023, 14:38, Horstmeier, Philipp [horstmep]