Hessen (post)kolonial
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Koloniale Repräsentationen
Beschäftigt man sich mit der Geschichte des Kolonialismus, dann kommt der Alltagskultur eine besondere Bedeutung zu. Verstanden seien unter Alltagskultur in einem ersten, gleichwohl für diesen Kontext ausreichenden Zugriff all diejenigen Gegenstände und Gebräuche, Traditionen und Repräsentationsformen, die von einer bestimmten Gemeinschaft während einer bestimmten Epoche geschaffen wurden und in einem weiteren Sinne dem Feld der „Kultur“ zugerechnet werden können (die also „Kultur“ sind, aber nicht unter die engeren Kultursparten wie „Literatur“, „Kunst“, „Musik“ etc. fallen) und deren Wirksamkeit sich nicht auf eine kleine gesellschaftliche Gruppe oder eine Elite beschränkt.[1] Für das Zeitalter des (Post-)Kolonialismus lassen sich beispielhaft Postkarten und Schulbuecher finden, die koloniale Themen und/oder Vorstellungen behandeln bzw. transportieren, sowie etliche Reklamesammelbilder mit kolonialen Motiven, aber auch Werbeikonen wie der Sarotti-Mohr.
All diese Phänomene gehören zum von der Forschung so genannten „volkstümlichen Kolonialismus“. Dieser stand im Dienste der nationalen Kolonialpropaganda und zielte darauf, den Kolonialgedanken in möglichst breiten Kreisen der Bevölkerung zu verankern und zu stärken. Für den Historiker bietet sich hier mehr noch als auf anderen Feldern die Möglichkeit, Spuren des Kolonialismus im Leben der „kleinen Leute“ zu finden und so gewissermaßen danach zu fragen, wo und wie der Kolonialismus als politische Entwicklung von der Makro- auf die Mikroebene transformiert wurde.
Auf diese Weise analysiert und kontextualisiert, bieten die Phänomene der Alltagskultur einen ganz eigenen Blick auf die Zeit des Kolonialismus, auf seine Akteure und Hintergründe im Heimatland wie auf Vorstellungen und Stereotype von den/dem „Fremden“.
Quelle
Zwischen 1896 und 1940/41 fanden in Deutschland etwa 50 Kolonialausstellungen statt. Dabei handelte es sich um sehr unterschiedliche, ja disparate Veranstaltungen, die unter anderem hinsichtlich ihrer Größe, aber auch hinsichtlich der Veranstalter und Organisatoren und ihres Zwecks mitunter stark voneinander abwichen. Grundsätzlich gilt, dass bei Kolonialausstellungen alles präsentiert werden konnte, was in irgendeiner Weise mit Kolonialismus, Kolonien und dem Leben in Übersee zu tun hatte, darunter ethnographische Aspekte wie Völkerschauen oder nachgebaute Urwalddörfer, aber auch Repräsentationen des wirtschaftlichen Kolonialismus wie Kolonialwaren und Geschäftsfelder von in Übersee tätigen deutschen Unternehmen. Meist hatten Kolonialausstellungen regelrechten Messe-Charakter; es versammelten sich einflussreiche Firmen, Organisationen und Personen der „kolonialen Szene“ zum Sehen und Gesehen-Werden. Hinter diese Funktion darf gleichwohl die Hauptaufgabe der massenwirksamen Werbung für den „kolonialen Gedanken“ nicht zurücktreten.
Während bis etwa 1920 meist die ethnographischen Aspekte überwogen und unter anderem Völkerschauen zum zentralen Repertoire der Ausstellungen zählten, zumindest aber eine wichtige Rolle im Veranstaltungsprogramm spielten, entwickelten sich die Kolonialausstellungen seit den 1920er-Jahren (in etwa parallel mit dem Verlust der deutschen Kolonien) zusehends zu reinen Fotoausstellungen, angereichert durch ethnografische Exponate und teils kleinere Modelle beispielsweise von Hütten, Dörfern o.ä. Zugleich nahm der - auch zuvor schon wichtige - Aspekt der Kolonialwirtschaft einen immer breiteren Raum ein.
Oft waren die Kolonialausstellungen keine selbstständigen Veranstaltungen, sondern als Teile anderer Ausstellungen konzipiert – die erste gesamtdeutsche Kolonialausstellung 1896 in Berlin-Treptow gehörte beispielsweise zu einer großen Gewerbeschau, die Ausstellung 1906 in Kassel (s.u.) war Teil der Jubiläums-Ausstellung des örtlichen Gartenbau-Vereins. Auch Jagdausstellungen boten immer wieder einen willkommenen Rahmen für koloniale Schauen, ebenso Feierlichkeiten zu Jubiläen von kolonialen Interessenverbände wie die Deutsche Kolonialgesellschaft. Indem die Schauen meist nicht für sich standen, sondern in größere Kontexte eingebettet waren, dokumentierten sie zugleich, dass auch der Kolonialismus kein Thema einer kleinen Elite sein sollte, sondern ein selbstverständlicher Teil des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland.
Kolonialausstellungen fanden in fast allen großen Städten des Landes statt, daneben aber auch immer wieder in der Provinz, beispielsweise 1901 in Warnemünde oder 1912 in Plauen. Auch darin mag man eine Absicht erkennen: dass nämlich der Kolonialismus alle Deutschen angehe und nicht nur eine (groß-)städtische Elite. Manche Ausstellungen dauerten ein halbes Jahr, andere waren nach wenigen Tagen beendet; manche erreichten sechsstellige Besucherzahlen, andere wurden nur von wenigen Tausend Menschen wahrgenommen. Wichtigste Veranstalter der Ausstellungen waren zunächst die Deutsche Kolonialgesellschaft und ihre Ortsgruppen, die für ihre Veranstaltungen häufig finanzielle Unterstützung von Mäzenen oder in Übersee tätigen Firmen erhielten. In den 1920er-Jahren oblag die Organisation der Kolonialausstellungen dann dem Ausschuß für deutsche Kolonialpropaganda, in den 1930er-Jahren dem nationalsozialistischen Reichskolonialbund, in dem seit 1933 alle deutschen Kolonialorganisationen (darunter als prominenteste die Deutsche Kolonialgesellschaft) zusammengefasst waren. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich freilich auch der Ton der Ausstellungen, und der imperialistische Anspruch wurde aggressiver als zuvor vorgetragen (dazu siehe unten).
Bezüglich der Ziele der Ausstellungen lassen sich mehrere Dimensionen unterscheiden, wobei nicht jede Ausstellung jedes genannte Ziel verfolgen musste. Da wären zunächst die bereits erwähnten propagandistischen und ökonomischen Motive: Die Ausstellungen warben (meist) massenwirksam für koloniales Gedankengut und boten bereits engagierten Firmen eine Plattform der Repräsentation, während sie zugleich das Engagement der noch nicht kolonial engagierten Teile der privaten Wirtschaft in den Kolonien fördern sollten. In der Regel gehörten daher Pavillons und Stände, an denen die Besucher Kolonialwaren testen konnten, zu jeder Kolonialausstellung. Sodann erfüllten die Ausstellungen - zweitens - einen „wissenschaftlichen“ Zweck, indem sie für Ethnografen eine Gelegenheit zur „Feldforschung“ vor der Haustür lieferten. Wissenschaftler konnten, wenn es Völkerschauen bei den Ausstellungen gab, importierte „Exoten“ vermessen und andere Beobachtungen und Studien durchführen, etwa zum vermeintlichen Alltag der „Exoten“. Drittens hatten viele Kolonialausstellungen eine Struktur, die denen von Freizeitparks ähnelte. Sie dienten - zumal im Rahmenprogramm - also der Vergnügung, sei es durch Restaurants, durch künstliche Teiche mit Bootsverleih, durch eine elektrische Rundbahn oder etliche andere Attraktionen. Vereinzelt hatten die Ausstellungen überdies einen vierten Zweck: Sie wurden als Benefizveranstaltungen konzipiert - so die Kolonialausstellung 1901 in Warnemünde, deren Gewinne an einen Lungenheilstättenverein gingen, sowie die Ausstellung 1897 in Kassel, deren Erlös dem „Deutschen Frauenverein für Krankenpflege in den Kolonien“ zugute kam.
Von der Kolonialwarenausstellung Frankfurt 1921 unterschieden sich die im Folgenden beschriebenen Kolonialausstellungen insofern, als sie die genannten Zwecke erfüllten, während die Frankfurter Ausstellung 1921 eine reine Gewerbeschau bzw. ausschließlich eine Warenausstellung war. Man könnte auch sagen: Während die Kolonialwarenausstellung 1921 für sich bzw. nur für die ökonomischen Aspekte des Kolonialismus stand, boten Kolonialausstellungen im hier gemeinten Sinne ein Potpourri kolonialer Aspekte.
- Kolonialausstellung Kassel 1897
- Kolonialausstellung Wiesbaden 1899
- Kolonialausstellung Kassel 1906
- Kolonialausstellung Frankfurt am Main 1907
- Kolonialausstellung Kassel 1911
- Kolonialausstellung Frankfurt am Main 1912
- Kolonialausstellung Wiesbaden 1935
- Kolonialausstellung Frankfurt am Main 1937
- Kolonialausstellung Wiesbaden 1941
Literatur
- Stefan Arnold: Propaganda mit Menschen aus Übersee - Kolonialausstellungen in Deutschland, 1896 bis 1940, in: Robert Debusmann/Janos Riesz (Hg.): Kolonialausstellungen - Begegnungen mit Afrika?, Frankfurt am Main 1995, S. 1-24.
- Janos Riesz: „Kolonialwaren“ - Die großen Kolonialausstellungen als „exotische“ Warenlager und Instrumente kolonialer Propaganda, in: ebd., S. 157-176.
- Jeff Bowersox: „Neuer Lebensraum in unseren Kolonien“. Die Berliner Kolonialausstellung von 1933, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): „…Macht und Anteil an der Weltherrschaft“. Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 177-184.
- Britta Lange: Die Figur eines „Papua-Kriegers“ in Frankfurt am Main 1906/2014.
Völkerschauen waren ein typisches Phänomen der Kolonialzeit, sie wurden aber nicht etwa erst in der Kolonialzeit „erfunden“. Vielmehr sieht die geschichtswissenschaftliche Forschung heute unter anderem in Christoph Kolumbus einen der eigentlichen „Erfinder“ der Völkerschauen - denn er hatte nach seiner Entdeckungsreise dem spanischen Hof zwei Arawah als lebende Beute präsentiert. Auch in der Folgezeit verschleppten Eroberer, Entdeckungsreisende und Kaufleute immer wieder Eingeborene nach Europa. Am Hofe der Medici in Florenz gab es zu Anfang des 16. Jahrhunderts gar „Menschenmenagerien“ mit lebenden „Barbaren“.
Die Völkerschauen im engeren, kolonialen Sinne erreichten seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein großes Publikum. Etwa zur gleichen Zeit nahm der „Import“ von „Exoten“, vor allem aus den europäischen Kolonien, erheblich zu. Zunächst waren Völkerschauen vor allem im Rahmenprogramm größerer Ausstellungen zu finden, namentlich besonders der Weltausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine der bekanntesten Völkerschauen auf deutschem Boden gehörte 1896 zum Beiwerk der Berliner Kolonialausstellung. Der Hamburger Tierhändler und Zoodirektor Carl Hagenbeck („Hagenbecks Tierpark“) gehörte zu den findigen Unternehmern, die das Gewinnpotenzial in Völkerschauen sahen und deshalb begannen, mit Programmen durch das Land zu touren. Er rühmte sich in seinen Memoiren gar als eigentlichen Erfinder der Völkerschauen. Dabei gingen die seit den 1870er Jahren (bis 1932) zuerst in Hamburg, dann deutschlandweit gezeigten, unter Zeitgenossen berühmten Hagenbeckschen Völkerschauen auf solche Schauen zurück, die der junge Carl Hagenbeck - gleichwohl ein Pionier der kolonialen Völkerschau - in den 1850er Jahren in St. Pauli besucht hatte.
Allgemein versteht man unter Völkerschauen die Ausstellung Angehöriger eines fremden Volkes auf Bühnen oder in Freigehegen, oft in Zoologischen Gärten. In der Kolonialzeit wurden besonders afrikanische Völker zur Schau gestellt, aber etwa auch "Inder" und "Eskimos". Zu den Veranstaltungen gehörten häufig auch Tierdressuren, manchmal ethnografische Ausstellungen sowie populäre Unterhaltungselemente (ähnlich einem Zirkus). In der Hochzeit der Völkerschauen, zwischen 1870 und 1940, wurden deutschlandweit mehr als 300 Stämme bzw. Gruppen auf diese Weise vorgeführt, darunter neben Afrikanern noch "Indianer", "Eskimos", "Inder" und "Australier". Die Schauen in Zoos dauerten in der Regel wochenlang und erfreuten sich in der Bevölkerung stetig steigender Beliebtheit. So wurden bei Hagenbeck in Hamburg an einzelnen Sonn- und Feiertagen mehrere Zehntausend Besucher gezählt - Völkerschauen waren damit ein Medium der Massenunterhaltung und wichtiger Teil der kolonialen Repräsentation und Alltagskultur.
Während die Straßennamengebung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit noch das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen den Anwohnern einer Siedlung war, also des Gebräuchlich-Werdens eines interaktional gewachsenen Namens, so etablierte sich im 19. Jahrhundert zunehmend die Praxis administrativer Vergabe – und zu der ursprünglichen, primären Orientierungsfunktion von Straßennamen trat fortan deren Erinnerungsfunktion. Diese funktionelle Überlagerung führte wiederum zu einer tendenziellen Entkoppelung der Straßennamen „vom umgebenden Raum“. Moderne Straßennamen beziehen sich häufiger auf die umgebende Kultur oder Herrschaft. Namenswechsel resultieren daher weniger aus Änderungen der realen Grundlagen einer Benennung, sie sind nun zumeist „Folgen und Zeichen politischer Zäsuren“ (in Deutschland etwa 1918/19, 1933, 1945/49, 1989/90).
Gerade in Zeiten politischer Turbulenzen und Transformationen unterziehen die jeweiligen Machthaber den Straßennamenbestand einer kritischen Revision: Welche Traditionen erweisen sich als anschlussfähig und sollen fortgeführt, welche Traditionsstränge hingegen gekappt werden, weil sie nicht länger identifikatorisch wirken? Selektivität und Wandelbarkeit zählen somit zu den wesentlichen Merkmalen des Erinnerungsträgers „Straßenname“. Um dem Gegenstand gerecht zu werden, gilt es diese und die folgenden Dimensionen zu berücksichtigen:
- Das Medium: Moderne Straßennamen sollen meist räumliche und kulturelle bzw. politische Orientierung leisten. Das Neben-, zuweilen aber auch Gegeneinander dieser Funktionen verdient besondere Beachtung. Wie können die unerwünschten Nebeneffekte umfangreicher Eingriffe in das Namengefüge abgemildert und das Primat der Orientierung gewährleistet werden? Wie werden aber auch die Eigenheiten von Straßennamen gebraucht, um Macht zu demonstrieren und Sinn zu stiften?
- Die Akteure: Hier gilt es einzubeziehen, welche Personen, Gruppen und Institutionen die Benennung von Straßen anregen, aushandeln und beschließen, welche Absichten sie verfolgen und welche Argumente sie vorbringen.
- Die Kontexte: Da Akteure niemals im luftleeren oder herrschaftsfreien Raum handeln, gilt es auch die Kontexte auszuleuchten, die ihr Tun und Lassen bedingen. Der historische, politische, soziale, kulturelle oder rechtliche Rahmen, innerhalb dessen (Um-) Benennungen vorgeschlagen und vorgenommen werden, ist für deren Verständnis also grundlegend.
- Die Phasen: Weiterhin ist danach zu fragen, ob sich verschiedene Phasen unterscheiden lassen, in denen der Straßennamenbestand relativ konstant und statisch ist oder aber von „eruptiver Dynamik“ geprägt, und worauf sich etwaige (Um-) Benennungsschübe und -wellen zurückführen lassen.
Unter Einbeziehung der hier skizzierten Dimensionen wird in den folgenden Kapiteln die „kurze Geschichte“ der kolonialen Straßennamen in Frankfurt am Main skizziert. Betont wird dabei der instrumentale Charakter der Straßenbenennungen, ihre „Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke“ – kurzum: Geschichtspolitik.
Koloniale Straßennamen in Hessen
Quellen
- Damaris Nübling: Namen. Eine Einführung in die Onomastik, Tübingen 2012, S. 243-250.
- Matthias Frese: Straßennamen als Instrument der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Fragestellungen und Diskussionspunkte, in: Ders. (Hg.): Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012, S. 9-19, Zitat: S. 10
- Ebd., S. 11.
- Vgl. zur Operationalisierung des Konzepts „Geschichtspolitik“ allgemein: Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999.
- Dietz Bering: Grundlegung kulturwissenschaftlicher Studien über Straßennamen. Der Projektentwurf von 1989, in: Jürgen Eichhoff/Wilfried Seibicke/Michael Wolffsohn (Hg.): Duden. Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung, Mannheim 2001, S. 270-281, Zitat: S. 276.
- grundlegend: Felix Schürmann: Die kurze Geschichte der kolonialen Straßennamen in Frankfurt am Main. 1933-1947, in: Werkstatt Geschichte, Heft 61 (2013), S. 65-75.
- Heinrich August Winkler: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik, Göttingen 2004, S. 7-13, Zitat: S. 11.
Zuletzt geändert: 26. Feb 2025, 13:22, Horstmeier, Philipp [horstmep]