Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

Funktionen

Maja Klös: Transkript einer verflossenen Sommernacht

[winteru] - 5. Okt 2021, 08:46
Wenn die letzten Sonnenstrahlen eines Tages, der bald für immer verloren sein wird, sanft über den Horizont gleiten und der Himmel in ein goldenes Rot getaucht wird, schließt du die Augen. Du lässt zu, dass sich dieser Sonnenuntergang in dein Gedächtnis einbrennt, du willst ihn nie vergessen, selbst wenn du dafür für immer die Augen geschlossen lassen musst. Dir wird plötzlich warm auf der Haut und du stellst dir vor, dass die Sonne dich zum Abschied auf die Stirn geküsst hat. Wenn du die Augen öffnest, ist das Gold aus dem Himmel geflossen. Ganz eng schmiegt es sich an den schwarzen Horizont. An ein paar Wolken hängt noch etwas Rot, aber wenn du das nächste Mal hinsiehst, ist es schon von der drückenden Schwärze der Nacht ausgewaschen worden. Du schaust an die Stelle, an der sich die Sonne eben noch dankbar verbeugt hatte. Hinter dir fällt der finstere Vorhang der Nacht. Wie vergänglich doch alles ist, fällt dir auf. Bald schon wird der Mond die Dunkelheit durchstreifen und dann geht die Sonne wieder auf; ein neuer Tag wird seine Knospen öffnen.
Eine Gänsehaut, die sich so kalt und eng anfühlt, als würde sie nass an dir kleben, legt sich allmählich über dich. Wieder ist ein Tag verblüht. Gerne würdest du die Zeit anhalten. Am liebsten würdest du sie zurückdrehen. Noch einmal den goldenen Sonnenuntergang sehen. Noch einmal das Gefühl haben, die Sonne würde sich von dir persönlich verabschieden wollen.
Hin und wieder hast du das Gefühl, die Welt drehe sich um dich. Du, festgefroren an der gleichen Stelle, von der du dich schon zu lange entfernen wolltest, und alles um dich herum dreht sich ohne dich weiter. Alles dreht sich im Kreis, es ist zum Verrücktwerden, findest du, nur die Zeit hört nie auf abzulaufen. Du kannst eine Sanduhr unendlich im Kreis drehen, den Sand zurückrieseln lassen, den sie auf eine Seite geschoben hat. Du fragst dich, wohin die Zeit wohl fließt, wenn sie vergangen ist.
Sie lässt sich auf deiner Stirn nieder. Die Denkfalte wird in ein paar Jahren chronisch. Sie zieht an deinen Haaren. Sie sind schon viel zu lang geworden. Sie heilt deine Haut. Dann hinterlässt sie eine Narbe. Und hin und wieder greift sie gierig in dein Gedächtnis ein, schnappt sich, was du nicht oft genug in die Hand genommen und abgestaubt hast, und raubt dir, woran du dich jetzt gar nicht mehr erinnern kannst. Oft fällt dir ein, dass du etwas vergessen hast. Die Gänsehaut wird noch etwas enger, wenn du dich fragst, was du schon vergessen hast, ohne, dass es dir je wieder eingefallen ist oder je wieder einfallen wird. Die Zeit hat es genommen und rennt damit davon.
Du wirst sie nicht einholen. Und wenn du das Gefühl hast, du könntest sie packen, festhalten, indem du die Augen schließt und dir den Sonnenuntergang ins Gedächtnis ritzt, damit er für immer dort bleibt, dann gibt sie der Erde einen kräftigen Stoß und die Nacht rauscht herein, vertreibt die Farben vor deinen Augen und lässt deine Erinnerung mit sich selbst allein. Alles vergeht. Die Nacht, in der du stehst, vergeht; bald wird die Sonne die Dunkelheit vertreiben. Der Hügel, der vor dir emporragt, vergeht; es wird einen Tag geben, an dem der Hügel nicht mehr ist, ebenso wie es einen Tag gegeben hat, an dem der Hügel noch nicht war. Rasch reibst du dir die Gänsehaut von den Armen. Alles geht vorbei, seufzt du in die blasse Nacht, die still vor deinen Augen hereingebrochen ist. Nichts ist für immer. Bei diesem Gedanken huscht ein Lächeln über dein Gesicht und du beschließt, dich auf den Heimweg zu machen. Wenn nichts für immer ist – vielleicht vergeht ja bald, was du mit dem Sonnenuntergang betäuben wolltest.

Funktionen