Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

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Sarah Haas: Wichtige Entscheidungen

[winteru] - 5. Okt 2021, 08:37
„Ich weiß es wirklich nicht“, stöhne ich, „ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.“
Und wie erwartet ernte ich einen leicht genervten Blick. Dabei sollte er doch mittlerweile wissen, dass ich noch nie sonderlich gut darin war.
Er seufzt, setzt sich auf die Treppenstufe und bindet sich die neuen Sneaker, die er vor kurzem in einem kleinen Sportgeschäft gekauft hat. Wie er sich so schnell entscheiden konnte, bleibt mir ein Rätsel.
„Wenn ich fertig bin, weißt du es.“ Er greift nach seinem anderen Schuh.  „So schwer ist das doch gar nicht.“
Natürlich hat er recht. Aber irgendwie auch nicht. Vielleicht weil es für ihn so einfach ist. Aber für mich eben nicht. Es hängt so viel damit zusammen. So vieles, dass er gar nicht begreifen kann, weil er seine Entscheidung schon getroffen hat. Weil sie von Anfang an feststand. Weil er nie daran gezweifelt hat.
„Weißt du’s jetzt?“, will er schließlich wissen, als er sich aufrichtet und nach seiner Jacke greift.
Natürlich nicht, will ich ihm entgegnen, so einfach ist es dann auch nicht. Aber es ist mehr eine rhetorische Frage, als dass es ernst gemeint ist. Denn er weiß genauso gut wie ich, dass das nicht so schnell geht. Eben nicht bei mir. Und so wie ich die Arme vor der Brust verschränke und von einem Bein aufs andere wippe, würde es mich nach über vier Jahren auch etwas überraschen, wenn er es nicht direkt bemerken würde.
„Kannst du nicht für mich entscheiden?“, frage ich schließlich, „Dann geht’s viel schneller.“
Aber er schüttelt nur den Kopf. Da muss er wohl hart bleiben.
„Das musst du ganz alleine machen.“ Er schaut auf die Uhr. „Aber beeil dich, ich habe nicht ewig Zeit. Sonst komm einfach mit und entscheide dich spontan.“
Ob er hören kann, wie plötzlich alle Alarmglocken in meinem Kopf anfangen zu schrillen?
Spontan?“ Mein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. „Spontan kann ich das noch weniger.“
Spontan zu sein, das geht bei mir gar nicht. Das ist für mich wie Fukushima. Da sehe ich komplett rot. Und wenn ich nicht schon ein paar Tage im Voraus für wichtige Entscheidungen habe, wird das erst recht nichts. Dann müsste ich aus dem Bauch heraus entscheiden. Und was ist, wenn es dann genau das Falsche wäre? Hätte ich dann nicht etwa die andere Möglichkeit verworfen, die im Nachhinein viel besser gewesen wäre? Und geht nicht irgendwie doch beides? Das kann ja eigentlich nie falsch sein. Und wenn „beides“ nicht geht, könnte mir dann nicht jemand die Entscheidung abnehmen? Dann müsste man sich später auch nicht darüber Gedanken machen, was passiert wäre, wenn man sich für das Andere entschieden hätte. Dann hat man ja das Richtige.
Aber so einfach geht das nicht. Und so bleibt dieses Wirrwarr aus Konjunktiven.
Ich hasse Entscheidungen.
„Okay, ich weiß es“, sage ich schließlich. Obwohl ich es eigentlich nicht weiß. „Ich bin für das Erste.“
„Sicher?“
Natürlich durchschaut er mich.
„Nein, eigentlich nicht“, gebe ich kleinlaut zurück und stöhne. Verzweiflung macht sich in mir breit. „Denkst du etwa, das andere wäre besser?“
Ich denke gar nichts.“ Er zuckt mit den Schultern. „Entscheide dich.“
„Okay, okay“, erwidere ich versöhnlich, „ich weiß es jetzt.“
Wenn er seine rechte Augenbraue genauso gut heben könnte wie ich, wäre jetzt die perfekte Gelegenheit dafür.
Ich hole tief Luft. „Das Zweite. Sicher.“
Eigentlich überhaupt nicht.
„Alles klar“, antwortet er mittlerweile doch sichtlich amüsiert über meine innere Zerrissenheit. Er holt noch sein Portemonnaie aus der obersten Schublade der Kommode und steckt die FFP2-Maske ein, die er immer trägt – ganz egal, wo er hingeht.
Dann dreht er sich zu mir um, lächelt mich an und murmelt ein „Bis gleich.“
Und plötzlich fängt alles wieder an durcheinanderzuwirbeln. All das „hätte“ und „müsste“ und „könnte“ und „wäre“. Die Alarmglocken springen an. Noch lauter als zuvor. Ich wäge ein letztes Mal ab, ob es wirklich die richtige Entscheidung war. Ob es sich lohnt, ihn zurückzurufen.
Und es scheint, als könne er meine Gedanken lesen.
In seinen Augen funkelt dieses Spitzbübische, das ich mittlerweile schon so gut kenne. Er wartet einen Moment ab, bis er die Treppe runtergeht – weil er glaubt, dass ich mich noch einmal umentscheiden werde.
Das tue ich nicht. Dieses Mal nicht. Ich bleibe standhaft.
Aber als sich die Balkontür hinter ihm schließt und ich ihn durch das Fenster über den Hof laufen sehe, frage ich mich dann aber doch, ob das Erdbeerspaghetti-Eis nicht besser gewesen wäre.

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