Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

Funktionen

Amelie Berting: 21.06.21

[winteru] - 27. Sep 2021, 15:30
Die Sonne stand bereits tief und das kleine Fischerdörfchen war wie leergefegt, als wir auf den Parkplatz direkt neben der Anlegestelle fuhren. Einige Passagiere besetzten die Reihen auf dem oberen Deck der Fähre und ich beobachtete, wie eine ältere Frau auf sie zu eilte. Ich folgte meiner Mutter vorbei an der kleinen Bucht und zuckte plötzlich zusammen, als die Fähre mit einem lauten Hupen ablegte und sich langsam auf den blauen Streifen am Horizont ausrichtete.

Das Restaurant lag nur ein paar Meter weiter und der Außenbereich schien bereits stark besetzt zu sein. Unwillkürlich verschränkten sich erst meine Finger und schließlich meine Arme, doch meine Mutter steuerte mit langen Schritten weiterhin auf den Eingang zu. Vielleicht hätten wir vorher anrufen und reservieren sollen?

“Haben Sie noch einen Tisch für zwei?”

Ich sah mich um. Es war zu voll.

Der Oberkellner verwies dennoch auf zwei Tische am Eingang: Ein Zweiertisch zu unserer Linken, ein Vierertisch zu unserer Rechten; beide reserviert. Ohne lang zu überlegen ließ sich meine Mutter an dem Vierertisch nieder. Es wäre bestimmt besser gewesen, zu reservieren.

Ich setzte mich ihr gegenüber, mit dem Rücken zum Gebäude und rutschte etwas unruhig auf dem schweren Gartenstuhl umher. Er stand zu weit vom Tisch entfernt, um sich entspannt zurücklehnen zu können ohne lächerlich zu wirken, doch auch nach drei Versuchen ihn näher heran zu rücken, klemmte er am Kopfsteinpflaster fest, sodass ich es sein ließ. Ich lehnte mich nach vorn, stützte meine Arme auf den Tisch und versuchte so gut es ging die viel zu verkrampfte Position auszublenden, indem ich mich auf der Terrasse umsah. Das warme Licht der Sonne blendete mich, als meine Augen, durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille verborgen, über die anderen Gäste wanderten. Meine Aufmerksamkeit blieb schließlich an zwei krummen, halbausgetrunkenen 0,3 L Biergläsern auf dem Tisch neben uns hängen. Eine Frau mittleren Alters mit langem, hellbraunem Haar hatte ihre Arme vor ihrem Bierglas auf den Tisch gestützt und ließ den Blick genau wie ich über die anderen Gäste schweifen. Ein Tropfen Kondenswasser rann an seinen Kurven herab und sammelte sich auf dem dunkelbraunen Tisch.

Ich stellte mir vor, wie es wohl aussah, wenn all diese Gläser zusammen im Regal stehen würden. Ob sich ihre Bogen ergänzen und sie sich aneinanderschmiegen?

Hinter mir holperten Kellner in großen Schritten über das Kopfsteinpflaster und verwandelten die leichten Konversationen der Gäste in ein Klirren von Besteck. Ich fühlte mich noch immer unwohl auf meinem zu weit entferntem Stuhl; als säße ich ihnen im Weg, obwohl Platz genug war.

Nur aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein Kellner mit zwei Tellern an den Tisch der Frau herantrat. Ich drehte mich weg und überlegte, wann unser Essen kommen würde, doch es irritierte mich, dass der Kellner immer noch an dem Tisch der Frau stand, ohne das Essen abzustellen. Unwillkürlich wurde ich neugierig.

Ich hatte den Anfang ihrer Unterhaltung nicht mitbekommen, aber die Frau schien dem Kellner etwas erklären zu wollen, denn er verstand nicht so recht, was sie wollte. Ich ebenso wenig.

“Können Sie das Essen vielleicht warm stellen? Mein Mann ist gerade los, um das Auto umzuparken und ich habe ihm zwar gesagt er solle es gut sein lassen, aber er wollte nicht auf mich hören und ist trotzdem gegangen.”

Mit einem Seufzen drehte der Kellner um und hastete zurück in das Haus hinter mir. Aufgeregte Diskussionen drangen aus dem Inneren, bis der Oberkellner an den Tisch trat und die Frau ihm erneut ihre Lage schilderte.

“Wollen Sie dann nicht wenigstens essen?” brummte er unter seiner Maske und die Frau bejahte kleinlaut.

Ich zwang mich meinen Blick von ihr zu nehmen und ihn stattdessen auf die alte Linde zu meiner Rechten zu richten. Erst die laute Stimme des Oberkellners riss mich aus meinen Gedanken.

“Sie haben mir ja deutlich gezeigt, was Sie von uns halten!”

Ich erstarre auf meinem Stuhl, den Blick in den breiten Stamm des Baumes verkeilt und brüstete mich für den Gegenschlag des Mannes, der an dem Tisch neben uns Platz nahm.

Kein Kunde ließ so mit sich reden. Zumindest hatte ich noch nie so jemanden getroffen. Die anderen Gespräche auf der Terrasse verstummten und ich konnte den beißenden Blick des Oberkellners in meinem Rücken spüren. Er galt nicht mir, aber ich verharrte dennoch in der verkrampften Position auf meinem zu weit entferntem Stuhl aus Angst ins Kreuzfeuer zu geraten, wenn der Mann dem Oberkellner seine eigenen Ansichten entgegenschleudern würde.

“Ich bitte vielmals um Verzeihung! Ich musste das Auto schnell umparken, da der Parkplatz am Schließen war und wir sonst nicht mehr rausgekommen wären. Ich habe es gerade in letzter Minute geschafft und es tut mir wahnsinnig leid Ihnen solche Umstände bereitet zu haben. Ich konnte es selbst nur schweren Herzens über mich bringen aufzustehen, dabei haben wir uns so sehr auf Ihr Essen gefreut.”
Der Oberkellner schwieg und ich wagte es nicht, den Kopf zu drehen, um nach seiner Reaktion zu schauen. Ich hörte Schritte hinter mir und nahm schließlich die Präsenz des Oberkellners am Nachbartisch wahr. Der Mann entschuldigte sich erneut für sein Verhalten, als sein Essen vor ihm ohne weiteren Kommentar abgestellt wurde. Ich löste den Blick erst vom Baum, als unser eigenes kam.

Die allgemeine Anspannung hatte sich schnell gelegt und die Gäste wandten ihre Aufmerksamkeit wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu, doch die Situation ließ mich nicht los. Nach einigen Minuten kam der Oberkellner erneut zum Tisch des Mannes und niemand schenkte ihm besondere Beachtung, als er sich nach dem Zustand des Essens erkundigte.

“Prima, alles in bester Ordnung! Und genau, was wir uns erhofft hatten. Vielen Dank für ihre Mühen und erneut; Es tut mir wirklich außerordentlich leid.”

Mit knappen Worten und kaum hörbar entschuldigte sich auch der Oberkellner für seine barschen Worte und verschwand wieder zwischen den Tischen. 

Er kam erst zurück, um die leeren Teller der beiden abzuräumen.

“Naja, immerhin konnten Sie das Auto rechtzeitig umparken.” Brummte er und kehrte zu seiner Position am Gebäudeeingang zurück.
 
Ich kämpfte lange gegen den Drang an, den Kopf zu drehen und mir den Mann am Tisch neben uns genauer anzusehen. Wie sah so jemand aus? Jemand, der eine angespannte Situation so souverän händelt, sie mit einer spielerischen Leichtigkeit entschärft.

Als eine Kellnerin die Rechnung an seinen Tisch brachte, gab ich endlich nach. Der Mann mit dem vollen weißen Haar und ebenso hellen Augenbrauen war einer dieser Männer, die nicht zu knauserig waren mit einem großen Schein zu bezahlen. Er war einer dieser Männer, die eine nervöse Kellnerin mit leichtem Witz auflockerten, wenn das Zusammenrechnen etwas länger dauert.

Ich ließ meine Sonnenbrille auf dem Tisch zurück, um nach drinnen zu gehen und selbst zu bezahlen. Als ich wieder herauskam, war meine Mutter mit dem Pärchen in ein oberflächliches Gespräch verwickelt. Der Mann schenkte mir ein ehrliches Lächeln, als wir uns verabschiedeten und das Restaurant verließen. Er war einer dieser Menschen, die einem aufrichtig in die Augen sahen, während sie mit jemandem sprachen und deren Augenwinkel lange zarte Lachfalten zierten.

Unser Weg zurück führte uns an der menschenleeren Anlegestelle vorbei. Die letzte Fähre hatte das kleine Dorf um 18:30 Uhr verlassen.

Funktionen