Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

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Sarah Haas: Nähe und Distanz

[winteru] - 27. Sep 2021, 15:16
Nähe und Distanz. Nähe trotz Distanz. Nähe durch Distanz.

Geht das?

Ich denke darüber nach, während ich die Menschen um mich herum beobachte. Die junge Frau mit der schicken roten Hemdbluse vor mir ist gerade dabei, einige Zucchinis und eine große Aubergine in einen beigen, etwas abgenutzten Jutesack zu packen. Die Maske verdeckt ihr halbes Gesicht. Und obwohl ich es nicht sehe, habe ich nicht das Gefühl, dass sie sich wahnsinnig beeilt. Sie wirkt entspannt, wie als wäre dieser Ausflug zum Supermarkt das Angenehmste, was sie sich gerade vorstellen kann. Sie runzelt leicht die Stirn, als sie merkt, dass das restliche Obst wohl doch nicht mehr in ihren kleinen Jutesack passen wird. Aber sie glättet sie wieder, als sie eine weitere kleine Stofftasche aus ihrer Jackentasche zieht.

Nachdem sie den letzten Apfel, einer der Sorte Gala, vom Band genommen hat, wirft sie mir und der Kassiererin ein freundliches Lächeln zu – zumindest erahne ich eines, als ich die kleinen Lachfältchen um ihre Augen herum bemerke. Dann packt sie ihre bis zum Rand vollen Beutel in die rechte Hand, dreht sich um und verschwindet um die Ecke Richtung Ausgang.

Auch ich muss unbewusst lächeln. Meine Maske verrutscht dabei etwas und ich ziehe sie zurecht.

Nähe und Distanz.

Zumindest fühlt es sich in manchen Augenblicken danach an.

Während ich meinen Einkauf auf das Band räume und dabei stets versuche, mit dem Ellbogen nicht allzu oft gegen die durchsichtige Plastikvorrichtung hinter mir zu stoßen, die mich von den Kunden an der anderen Kasse trennt, muss ich daran denken, wie grotesk diese Situation eigentlich ist. Es ist schon seltsam, wie eine kleine, unerwartete Geste völlig fremder Menschen einen manchmal glücklicher machen kann, als man zunächst vermuten mag. Vielleicht ist es das, was manchmal fehlt. Das Gefühl von Nähe. Trotz Distanz.

Der Einkaufswagen des nächsten Kunden hinter mir kommt in mein Sichtfeld und ich bemerke beiläufig, dass der alte Mann genau auf der vorgesehenen Markierung von einem Meter fünfzig steht. Nach mittlerweile einem Jahr fühlt es sich so vollkommen normal an. Abstand bedeutet Respekt. Respekt gegenüber dem Nächsten.

Eilig gehe ich an der Schutzvorrichtung aus Plastik vor der Kassiererin vorbei und werfe ihr, genau wie meine Vorgängerin, ein freundliches Lächeln zu. Wieder verrutscht meine Maske, aber ich lasse sie so wie sie ist. Denn auch sie lächelt mich an. Ihre Augen blitzen mir entgegen und ich habe nicht das Gefühl, dass uns dieses trübe Plastik trennt.

Es piept wieder und ich beginne schnell, alles, was sie schon eingescannt hat, in meinen Rucksack zu packen, ohne dabei zu vergessen, dass der alte Mann hinter mir erst dann einen Schritt nach vorne machen wird, wenn ich selbst einen gemacht habe. So sind die Vorschriften. So wird aus den Abstandsregeln eine Möglichkeit, dem anderen Raum zu geben. Dessen Würde zu schätzen. Und Würde ist auch Gesundheit. Der alte Mann hält sich daran.

Wie grotesk das auch klingt: Nähe durch Distanz. Ich bin dankbar dafür.

Stille macht sich breit, als die Kassiererin ihre Arbeit beendet hat. Sie sagt mir durch ihre Maske hindurch den zu zahlenden Preis, aber die Plastikvorrichtung scheint ihre Worte zu verschlucken. Daher lese ich die Zahlen auf der kleinen Anzeigetafel und nicke, als hätte ich sie verstanden. Ich lege ihr das Geld direkt passend in die nach oben gewendete Handfläche und ernte ein weiteres Lächeln, als sie merkt, dass sie mir kein Rückgeld zu geben braucht. Sie sagt noch etwas, das ich nicht verstehen kann und ich schüttele einfach nur den Kopf, weil ich vermute, dass es der Kassenzettel ist, den sie meint.

Und plötzlich ist sie wieder da: die Distanz.

Ich will ihr noch ein schönes Wochenende wünschen, aber ich weiß, dass sie es nicht verstehen wird. Also lächle ich ein weiteres Mal und versuche Dankbarkeit in meinen Blick zu legen. Ich werfe mir meinen Rucksack um und gehe Richtung Ausgang. Dabei denke ich an den alten Mann von vorhin, der nun an der gleichen Stelle stehen wird - mit dem gleichen Lächeln der Kassiererin. Aber dann bin ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders.

Nähe und Distanz. Ein ständiges Wechselspiel.

Als sich die Türen des Supermarktes automatisch vor mir öffnen, schlägt mir ein angenehm warmer Luftschwall entgegen. Ich schließe kurz die Augen.

Als ich sie wieder öffne und den Einkaufswagen wegbringe, sehe ich ein mir bekannt vorkommendes Gesicht auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Zunächst bin ich mir nicht sicher. Aber dann merke ich, wie ihre Augen mich finden und erkenne den gleichen Ausdruck wie zuvor darin. Sie lächelt mich an. Und dieses Mal sehe ich wirklich, wie sich ihr Mund leicht verzieht und die darum liegende Haut in kleine Falten legt. Ihre Maske hält sie in der linken Hand und ihr roter Lippenstift hat exakt den gleichen Farbton wie ihre lange Hemdbluse.
Als eine schicke schwarze Limousine direkt neben ihr auf der Straße hält, schaut sie ein letztes Mal zu mir. Dann wendet sie sich ab und steigt in das Auto.

Und da spüre ich es wieder: Nähe und Distanz.

Wie verrückt, denke ich, denn es geht.

Mein Lächeln verblasst und ich mache mich auf den Heimweg.

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