Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

Julie Bonnaire: Das „Jetzt“ macht mir Angst.

[winteru] - 24. Sep 2021, 15:29

Das „Jetzt“ macht mir Angst, weil es bedeutet, dass es vorher ein „eben“ gab und später ein „bald“. Ein Moment ist also entweder mal ein „Jetzt“ gewesen oder wird bald eines sein.
Es fühlt sich an, als müsste ich jetzt Dinge erleben, weil ich jetzt lebe und bald lebe ich nicht mehr. Dann sind alle Jetzts verbraucht. Dann kann auch nichts mehr auf ein „bald“ verschoben werden. Das machen die Erwachsenen doch so gerne, sagen, „jaja, das machen wir bald“, und dann geschieht es nie. Das stört mich, seit ich als Kind am Fenster stand und in Strömen geweint habe, weil ich verstanden habe, dass ich sterben muss. „Irgendwann sind alle Jetzts verbraucht“, habe ich immerzu gedacht.
Ich verspüre den Druck, etwas zu bewegen, „etwas aus mir zu machen“, meine Fähigkeiten zu nutzen, um „die Welt zu einem besseren Ort zu machen“. „Ist dieser Wunsch nur idealistisch oder schon unsinnig?“, frage ich mich an zynischen Tagen. An zynischen Tagen gräme ich mich für jedes verstrichene „Jetzt“, in dem ich nicht die Welt gerettet habe. Denn das muss, denke ich, der Anspruch meines inneren Kritikers sein, der viele meiner Jetzts mit zermürbenden Fragen quält.
Die Momente, die wir leben, sind verdammt dazu, im Jetzt zu geschehen. Die Vergangenheit können wir nicht ändern, die Zukunft nur bedingt beeinflussen. Was macht das mit dem „Jetzt“?  Welchen Wert hat es noch?
Wer definiert, wann ein Moment gelebt ist, wann ein „Jetzt“ zu einem „eben“ wird und wann ein „bald“ den Platz des Jetzts einnimmt? Wer trennt diese Worte voneinander? Das „Jetzt“ macht mir Angst, weil es nur einen Herzschlag lang ist.