Blog zur Lehrveranstaltung Exploratives Schreiben

Amelie Berting: Zeit

[winteru] - 24. Sep 2021, 15:27

Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Ich fürchte mich nicht davor, wenn die Energie aus meinem Körper weicht und eine leblose Hülle hinterlässt. Aber ich fürchte mich davor, auf ein ungelebtes Leben zurück zu blicken. Ich fürchte mich davor, dem Tod in die Augen zu sehen und erklären zu müssen, womit ich meine Zeit verbracht habe.
Vorsichtig nehme ich den Strauß Blumen aus der Vase und lege ihn auf der Arbeitsfläche nieder.
Ich fürchte mich davor, jeden Tag ein wenig zu sterben, wenn ich meine Zeit an Dinge verschwende, die mir nichts bedeuten. Wenn ich den Menschen, mit denen ich mich umgebe, ins Gesicht schaue und in ihren Augen nach etwas suche, für das es sich lohnt, ihnen meine Zeit zu schenken. Ich sterbe ein wenig, wenn ich es nicht finde und mir bewusst wird, dass meine Zeit vergeudet wurde.
Ich sortiere die Blumen auseinander und befreie sie von verknickten Blättern.
Früher war das anders. Ich dachte, ich hätte eine Aufgabe, ein Ziel, einen Grund, warum ich gerade jetzt am Leben bin. Ich glaubte ein Teil des Puzzles zu sein. Ich dachte, ich hätte etwas Besonderes, das nur ich tun kann, um in dieser Welt etwas zu verändern. Heute lächle ich nur bei der Erinnerung daran. War das damals Naivität oder ist es heute bloß Zynismus?
Gnadenlos kappe ich ihre Stängel ab, stelle die Blumen probehalber zurück in die Vase und entscheide mich noch mehr abzuschneiden.
Etwas Besonderes, hm? Was soll das sein. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin ein Niemand, ein unbedeutender Passant in einem flüchtigen Moment, der es nicht wert ist erinnert zu werden. Meine Zeit ist ein Wimpernschlag auf der langen Achse des Universums. Wenn ich gestorben bin, wird sich die Welt genauso weiterdrehen wie zuvor. Sie wird eines Tages zerfallen oder erneut erblühen, aber das hat nichts mit meinem Tod zu tun. Oder doch? Wer weiß das schon. Es macht keinen Unterschied.
„Wie kannst du nur so etwas sagen!“ „Denk doch mal an die Menschen um dich herum, denen du etwas bedeutest!“ „Stell dir nur vor, wie sie leiden würden, wenn du nicht mehr da wärst.“ Aber ich kann ihr Weinen doch nicht hören. Was beweinen sie denn? Ist es ihr eigener Schmerz? Meiner kann es nicht sein, ich bin tot, meine Zeit ist abgelaufen und mein Leben beendet. Bedauern sie ihren eigenen Verlust, weil sie etwas beraubt wurden, das ihnen wichtig war? Als hätten sie mich besessen.
Die Schere schnappt zu und mit einem Knacken gibt der Stängel nach. Ich lächle.
Das ist meine Zeit, meine allein. Sollte ich dann nicht besser überlegen, wem ich sie widme?
Das hier muss sie sein: Die Kehrseite der Medaille, der Preis für meine Freiheit. Ich stumpfe ab und zahle den Preis für mein Handeln, ohne Rücksicht auf die Gefühle der anderen. Abstand von allem nehmen, nicht mehr perfekt sein müssen. Oder ist es bloß ein Wegrennen? Wahrscheinlich ist es sogar gefährlich, sich von allem zu lösen, denn wenn es nichts mehr gibt, was mich am Boden hält, nichts, was mich kontrollieren kann, nichts, was mir etwas bedeutet, dann hebe ich ab, schwinge mich in die Lüfte und mein Lächeln zieht sich zu einer Fratze. Ich lasse alles und jeden hinter mir, während Moral und Vernunft langsam von mir bröckeln.
Ich arrangiere die Blumen in der Vase und mein Gesicht spiegelt sich in ihrem Glas.
Gut, man kann noch nichts von der Fratze erkennen.